Wie Zigarren-Karl und die „Post“ verschwanden

Willy Karl hinter der Theke seines Tabak- und Zeitungsgeschäfts an der Eckenheimer Landstraße.

Über hundert Geschäfte gab es früher im Stadtteil – Der Heimatverein dokumentiert sie

Es roch nach Zigarren in dem kleinen Laden von Willy Karl. Tabak, Schreibwaren, Zeitungen und Postkarten verkaufte er und am Freitag, wenn Lotto gespielt wurde, standen die Kunden bis auf die Eckenheimer Landstraße. Ein Bild zeigt Karl im Nadelstreifen-Anzug hinter der Theke, wie der Verkäufer in einer Herren-Boutique. Hinter ihm sind die Zigarettenpackungen im Regal aufgestapelt, vor ihm auf dem Tresen sind Magazine ausgebreitet.

Auch Fisch gab es

Ursula Herrtwich erinnert sich noch gut an Zigarren-Karl, das Geschäft ihres Vaters. Für ein paar Pfennige konnte man Schachteln mit nur vier Zigaretten kaufen. In den 60er- und 70er-Jahren wurde „geraucht wie blöd“. Das Geschäft lief gut. Bis in die 1990er Jahre. Zeitweise über 120 Geschäfte, Kneipen und Wirtshäuser hat es früher Eckenheim gegeben. Mehrere Metzgereien, kleine Lebensmittelläden, Bäckereien. In der Eckenheimer Landstraße gab es bis Mitte der 60er Jahre das Fischgeschäft Weber, ein paar Meter weiter den Schuhladen Holzinger und in der Sigmund-Freud-Straße saß Schreibwaren Rauch.

Die Liste ist lang, die der Heimatverein Eckenheim in diesem Jahr zusammengetragen hat. Rund 250 Geschäfte zählt er auf. Er will die Geschichte des Eckenheimer Einzelhandels kartografieren. Herrtwich arbeitet mit daran, ebenso der Stadtteilhistoriker Oskar Pfreundschuh, die beiden Vereinsvorsitzenden Werner und Sylvia Pfeiffer und Arthur Rudolph. Sie wollen auflisten, wann welches Geschäft in welchem Haus geöffnet und geschlossen hat. Ihre Quellen sind Schriften der Industrie- und Handelskammer, die Chronik des Eckenheimer Heimatforschers Georg Esser und die eigene Erinnerung.

„In den 50er- und 60er-Jahren herrschte eine andere Geschäftskultur“, erzählt Pfreundschuh. Er stamme aus keinem begüterten Elternhaus. „Können wir am Freitag zahlen, wenn mein Mann sein Geld bekommt“, hatte seine Mutter Frau Reichert in dem Lebensmittelgeschäft in der Feldscheidenstraße gefragt. Und im Zeitungs- und Schreibwarengeschäft von Frau Schmitt in der Engelthalerstraße, konnte Pfreundschuh Schulhefte holen ohne zu bezahlen. „Deine Mutter kommt ja heute Nachmittag.“

Pfreundschuh beschreibt ein Verhältnis zwischen Kunde und Verkäufer, wie es heute selten geworden ist. Geschäfte waren Räume, in denen Stadtteil-Gesellschaft spürbar war. „Wer den neusten Tratsch erfahren wollte, der ging zum Lebensmittelgeschäft von Elli Baummann“, erzählt Werner Pfeiffer. Rudolph erinnert sich an Eisen- und Haushaltswaren Feuerbach an der Eckenheimer Landstraße. Ein Besuch gehörte zu jeder Reparatur. Vom „Nagel bis zum Einkochtopf gab es alles.“ Im wüsten Durcheinander in den Regalen hat aber nur der Inhaber Heinrich Feuerbach etwa gefunden. Er verkaufte Schrauben einzeln, man mussten nicht ganze Packungen kaufen. Herrtwich erinnert sich, wie sie jedes Jahr mit dem leeren Kanister in der Kelterei Scheid in der Engelthaler Straße Süßen holte. Dafür hat sie einmal für das Gasthaus „Zur Post“, dass die Scheids betrieben, die Speisekarte getippt, weil die Familie keine Schreibmaschine besaß.

Mit seiner Dokumentation möchte der Heimatverein zeigen, was Eckenheim verloren hat. Wer heute Schrauben und Dübel braucht, fährt in einen anonymen Baumarkt außerhalb Eckenheims. Lebensmittel kauft man in Supermärkten, die darauf getrimmt sind, dass Kunden möglichst schnell ihre Einkäufe erledigen. Anschreiben ist nicht vorgesehen. Nur Schulhefte gibt es noch beim Kiosk von Klaus-Peter Musch.

Es sind nicht nur die Geschäfte verschwunden. Auch Gaststätten und mit ihnen Räume für das Vereinsleben, sagt Werner Pfeiffer. 2020 hat das Traditionslokal „Zur Post“ geschlossen, Hier hatte der Heimatverein immer zu seinen Veranstaltungen getroffen. Auch zum Homburger Hof seien die Menschen nicht nur wegen des Rum-Steaks gegangen. „Der große Saal war der Saal für die Vereine“, sagt Pfreundschuh. Den Homburger Hof gibt es zum Glück noch, seinen Status als Vereins-Lokal habe er aber um die Jahrtausendwende verloren. Auch der gehobene Kurhessische Hof in der Eckenheimer Schulstraße schloss in den 90er Jahren. Das Lokal besuchte zwar eher die Frankfurter Prominenz, deren Chauffeure draußen warteten. Aber er war eine Institution, die über den Stadtteil hinaus bekannt war.

Ursprung eines Supermarkt-Imperiums

Aus Sicht des Heimatvereins begann der Niedergang des Eckenheimer Geschäftslebens mit dem Siegeszug der Supermärkte. „Sie waren günstiger und mit ihrer großen Verkaufsfläche hatte sie auch eine viel größere Auswahl“, sagt Pfreundschuh. Die Selbstbedienungmärkte ließen die Verkaufstheken verschwinden. Es ist ein Stück Wirtschaftsgeschichte, in dem Eckenheim eine besondere Rolle spielt.

1961 eröffnete Willi Leibbrand in der Steinkleestraße den ersten „HL-Markt“- benannt nach den Initialen seines Vaters Hugo Leibbrand. Der hatte in Rosbach einen Tante-Emma-Laden. Sein Sohn wollte mehr. Innerhalb von 25 Jahren wurde aus dem ersten Supermarkt Eckenheims die zweitgrößte Lebensmittel-Handelsgesellschaft Deutschlands, wie der Spiegel 1986 berichtete. Demnach gab es 1970 deutschlandweit schon 70 HL-Märkte. Nachdem die Preisbindung in den 70er Jahren für die meisten Produkte abgeschafft wurde, begann der Aufstieg erst richtig. 1986 gehörten 2300 Supermärkte mit Namen wie HL-Markt, Penny, Minimal und Toom dazu. Ende der 80er Jahre übernahm Rewe dann die Leibbrand-Gruppe. Es entstand die Konkurrenz, gegen die Zigarren-Karl keine Chance hatte.

Wir bedanken uns recht herzlich bei Friedrich Reinhardt und der Frankfurter neuen Presse, die diesen Artikel zu unserer Arbeit verfasst und veröffentlicht haben. Diesen Artikel können Sie im Original auf den Seiten der Frankfurter neue Presse unter diesem Link nachlesen.

Veröffentlicht wurde diese spannende Zusammenfassung unseres Schaffens am 27.12.2022.
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